Posts mit dem Label DeutscheBahn werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label DeutscheBahn werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 25. März 2018

HANSEPERSONALITY André Schwämmlein: Flixtrain - vielleicht die letzte Chance für privaten Fernverkehr in Deutschland.

HAMBURG DIGITAL INTERVIEW

Am vergangenen Freitag hat Flixmobility mit dem "FLX 20050" der Bahn den Kampf angesagt. Mit alten Schlafwagen der Nürnberger BahnTouristikExpress ging es mit 400 Premierengästen, lokaler Politprominenz und der versammelten Tagespresse von Hamburg-Altona über Hauptbahnhof und Harburg nach Köln. Der grüne Flixtrain fahrt ab sofort täglich außer Mittwochs am Morgen von Köln nach Hamburg und Mittags zurück an den Rhein, wie sein Vorgänger HKX. 


Der neue Flixtrain im Hamburger Hauptbahnhof.
Foto: Flixmobility

Mit Flixtrain startet das Tech-Startup ein eigenes, bundesweites Zugangebot. Im April d. J. fährt der Herausforderer die nächste Strecke von Berlin über Hannover und Frankfurt nach Stuttgart. 500.000 Fahrgäste will Flixtrain in diesem Jahr befördern, bis zu 600 pro Fahrt. Zum Fahrplanwechsel im Dezember d. J. plant man auf weiteren Strecken den Bus zu ergänzen und in Wettbewerb zum IC-Service der Bahn zu gehen. Wir sprachen mit dem Geschäftsführer von Flixtrain auf der Premierenfahrt von Hamburg nach Köln. Unser HANSEPERSONALITY ist André Schwämmlein:


Meine erste Frage: Haben Sie ein Bahn Card?


Ich habe keine Bahn Card. Ich hatte auch nie eine. Ich bin sehr offen, was Verkehrsmittel angeht. Ich bin großer Fan von öffentlichem Verkehr, hab' ja kein Auto. Aber Bahnfahren habe ich in den letzten 5 Jahren vermieden.


Warum?

Große Teile sind rational. Ich komme mit Bus und auf langen Strecken dann auch mal mit dem Flieger gut zurecht. Ein Teil ist sicherlich ein bisschen irrational. Wenns passt, nehme ich lieber was anderes in Kauf und fahr' eben nicht Bahn.

Sie fahren mit Ihren eigenen Bussen. Wie zufrieden sind Sie mit dem Service, den Ihre Subdienstleister da anbieten?


Mit dem, was unsere Partner machen, bin ich in der Menge sehr zufrieden. Es ist immer so, dass wenn man selber mitfährt, immer Sachen findet, die man besser machen könnte. Aber das ist - glaube ich - der kritische Blick, den man selber hat.


Jetzt gehen Sie mit Flixtrain auf dieser Strecke in den Wettbewerb zur Deutschen Bahn. Sie gehen preislich in den Wettbewerb unterhalb des ICE-Schnellverkehrs. Wie waren die ersten Reaktionen der Deutschen Bahn? Sie mussten ja direkt oder indirekt mit ihrem Partner mit der Deutschen Bahn verhandeln. Was hat die Deutsche Bahn dazu gesagt, nachdem sie bereits den BerlinLinienBus aus dem Verkehr geschoben haben?

Es ist bei dieser Trasse besonders, weil es diese Trasse schon gab, deshalb war es eher ein administratives Thema. Von daher keinerlei Beschwerden von unserer Seite. Richtig spannend wird's jetzt. Wir gehen jetzt in die Trassenbeantragung für den nächsten Fahrplan, und da kommt es glaube ich zum Schwur, wie gut der Netzzugang für andere Anbieter als die Deutsche Bahn wirklich ist.

Welche Bedeutung hat für Sie die Strecke Hamburg-Köln, schließlich ist hier bisher nichts Super-Schnelles und Super-Modernes unterwegs?



Flixtrain-Chef André Schwämmlein nach erfolgreicher Premiere in Köln.
Foto: HANSEVALLEY

Für uns ist das Projekt Flixtrain in Summe sehr wichtig, weil wir es als sehr gute Ergänzung zu unserem Busgeschäft sehen, und auch ein bisschen als natürliche Erweiterung dessen, was wir machen. Auf der anderen Seite ist Hamburg-Köln auch eine der ersten Strecken, die wir mit dem Bus gefahren sind - damals vor 5 Jahren. Das war im ersten Netz unter den ersten 10 Linien mit dabei. Von daher finden wir, dass es auch eine Strecke ist, die wir auf der Schiene attraktiv ist.

Gehen wir nochmal auf die Wettbewerbssituation: Sie gehen ab 9,90 € in den Wettbewerb bis ca. 29,90 € - vom Pricing aktuell, wenn man sich dass mal durchschaut. Das ist deutlich unter den Sparpreisen und den "Lidl-Tickets" der Deutschen Bahn. Greifen Sie die Bahn in erster Linie über den Preis an?

Das soll wirklich ein Produkt sein, dass sich quasi zwischen Flixbus und ICE positioniert, und damit auch preislich da positioniert. Und ja, wir wollen dauerhaft auch den günstigsten Preis bieten. Das haben wir im Busgeschäft. Unter dem Strich muss es dadurch funktionierten, dass der Bus oder hier der Zug sehr voll ist, und das ist das, was wir erreichen wollen.

Und das geht vor allem über Preis?

Der Preis ist nur möglich,, wenn wir auch schaffen, die Züge so voll zu machen. Da wir einen anderen Ansatz haben, als alle anderen, die vorher Fernverkehr probiert haben, nämlich das wir schon Netz haben, das wir schon viele Millionen Kunden haben, glauben wir, dass wir dieses Volumen generieren können. Allein heute 400 Leute an Board bei der Premierenfahrt - ich glaube, dass ist ein klares Signal: die Kunden haben Interesse, die Nachfrage ist da und unser Job ist es, dafür zu sorgen, dass es auch nachhaltig funktioniert.

Sie gehen als Nächstes auf die Strecke Berlin-Hannover-Frankfurt-Stuttgart. Was erhoffen Sie sich von der Strecke? Berlin-Hannover ist eine Rennstrecke, auch eine Pendlerstrecke. Auch Hannover-Frankfurt ist eine klassische Deutsch Bahn-Strecke, wo richtig Geld verdient wird. Da gehen Sie ja noch wesentlich stärker in den Wettbewerb, als hier auf der Nord-Ost-Tresse.


Wir schauen eigentlich viel stärker von uns kommend, was Sinn macht. Im südlichen Teil der neuen Strecke ist ja Stuttgart, Heidelberg, Darmstadt und dann Frankfurt, und die nach Berlin zu verbinden, das sind gerade bei Stuttgart sehr lange Fahrzeiten mit dem Bus. Da erschließen wir mit dem Zug nochmal ein komplett neues Segment von Leuten, die vorher Bus nicht nutzen konnten. Es funktioniert also nicht, wenn ich sage, ich nehme einfach mal meine Busfahrgäste und setze sie jetzt in den Zug. Das kann gar nicht funktionieren.


"Die 25 Mio. Menschen, die letztes Jahr Bus gefahren sind,
kommen nicht aus der Deutschen Bahn." 

Das Volumen hatte ich auf Berlin-Stuttgart nicht und das haben wir ehrlicherweise auf Hamburg-Köln auch nicht, sondern es müssen Leute umsteigen, und das haben wir im Bus auch gezeigt die letzten 5 Jahre. Natürlich sind wir Wettbewerber der Deutschen Bahn, aber wir müssen es schaffen, das Menschen aus dem Individualverkehr in den öffentlichen Verkehr kommen, denn die 25 Mio. Menschen, die letztes Jahr Bus gefahren sind, die kommen nämlich nicht aus der Deutschen Bahn. Die kommen aus dem Individualverkehr, denn die Bahn hat im selben Zeitraum auch nochmal 5 bis 10 Mio. Menschen gewonnen. Ich glaube, dass ist die richtige Interpretation.

Wir sind sehr harte Wettbewerber - wir und die Deutsche Bahn, und das ist gut für den öffentlichen Verkehr in Deutschland, weil beide dadurch stärker werden und der große Wettbewerber Auto hoffentlich auch in Zukunft weiter leidet.


Geht in Konkurrenz zur Deutschen Bahn: Flixtrain-Chef André Schwämmlein.
Foto: HANSEVALLEY

Schauen wir ein bisschen weiter nach vorn: Was planen Sie als Nächstes? Sie haben es gerade angesprochen: Weitere Trassen wollen Sie jetzt beantragen. Wollen Sie die Langstrecke Deutschland flächendeckend über grüne Züge abdecken?

Flächendeckend ist ein starkes Wort. Ja, das haben wir beim Bus immer gesagt, weil wir da auch immer viel mehr Kontrolle hatten, was wir eigentlich tun. Wir haben gesagt, wir wollen im Bus ein deutschlandweites Netz haben. Wir sind in vielen Bundesländern schon präsent. Ja, wir möchten diese Präsenz auch ausbauen. Es soll nicht bei 2 Strecken bleiben. Allerdings sind wir in großem Maße von der DB Netz abhängig, was wir wirklich fahren können. Und wir sind da schon realistisch genug zu wissen, dass die Geschwindigkeit, mit der wir ein deutsches und europäisches Netz im Bus aufgebaut haben, mit der Schiene nicht funktioniert.



"Wir werden nicht die zweite Deutsche Bahn.
Wir wollen eine günstige Alternative sein."

Ich habe sehr viel längere Zyklen, Trassen zu bekommen, Wagenmaterial zu bekommen. Von daher sind wir da realistisch, wir werden nicht die zweite Deutsche Bahn. Wir wollen eine günstige Alternative sein, das wollen wir auch gern auf mehr Strecken sein. Aber wir fahren diesen Sommer dann 3 Züge. Die Bahn hat fast 300 ICEs. Ich glaub', das gibt die Dimension wirklich wieder.

Das ist ja schon Wettbewerb. Sie sind der Erste, der auch in die Fläche geht und nicht nur eine einzelne Strecke anbietet. Wieviele Trassen wollen Sie jetzt für 2018 ff. neu beantragen?


Wir kommunizieren das ehrlicher Weise gar nicht. Warum? Nicht, weil wir etwas zu verstecken haben. Sondern, weil da noch soviel Unsicherheit im Prozess ist, weil wir auch sehen müssen, was kriegen wir von der DB Netz wirklich. Und ich möchte nichts ankündigen und dann sagen müssen 'haben wir nicht bekommen'. Da bin ich im Spätsommer/Herbst schlauer, wenn ich weiß, welche Trassen wir bekommen haben.


"Wir sind nicht größenwahnsinnig.
Wir wissen, wie die Zyklen im Fernverkehr laufen."

Ja, es ist sicherlich anders, als es bisher Einzelunternehmen gemacht haben, die sagen: ich mache Betrieb und Vertrieb zusammen und kann dann eben auch nur wenig betreiben, weil ich eine Trasse habe. Wir haben sicherlich den Vorteil, dass wir jetzt schon Stuttgart-Berlin mit einem anderen Betreiber machen können, wie Hamburg-Köln - damit wir uns auf den Vertrieb konzentrieren können. Ja, ich glaube schon, dass das vielleicht die letzte Chance ist, für privaten Fernverkehr in Deutschland.

Ich glaube auch, dass wir alle Voraussetzungen haben, das erfolgreich zu machen. Aber, wir sind nicht größenwahnsinnig. Wir wissen, wie die Zyklen im Fernverkehr laufen.

Die Deutsche Bahn geht jetzt im Regionalverkehr mit Start Deutschland in den Low Coast-Wettbewerb, versucht dort Strecken zurückzugewinnen. Erwarten Sie, dass DB Fernverkehr Ihnen irgendwann auch ein günstiges Angebot entgegensetzt, dass Sie mit Ihrem Angebot dauerhaft herausfordern wird - und nicht nur saisonal "Lidl-Tickets" schiebt?


Premierenfahrt des Flixtrain am vergangenen Freitag ab Altona.
Foto: HANSEVALLEY

Das weiß ich nicht. Es ist natürlich schwer, das irgendwie zu prognostizieren. Von daher ersparen wir quasi, uns darüber irgendwie Gedanken zu machen, was könnte jemand anderes tun. Ich glaube, wir haben es im Bus geschafft, alle Ideen die andere hatten, wie ich ein gutes Angebot konkurrisieren kann, mit unserer eigenen Vertirebskraft zu kontern. Ich glaube, dass wir das auch hier auf der Schiene haben. Wir haben mit unseren 40 Mio. Passagieren letztes Jahr etwas, das andere nicht haben im Fernverkehr.


Wettbewerb tut der Schiene gut. Wir wollen Verkehr auf die Schiene bringen.
Das ist der erste Schritt dazu.  

Flixmobility ist absoluter Vertriebsexperte. Sie sind Marktführer in Deutschland und Teilen Europas, was den Fernbus angeht. Sie gehen im Fernverkehr auf die Schiene. Was wird das Nächste sein? Holen Sie sich irgendwann einen Shared Mobility-Service im Bereich PKW? Wollen Sie irgendwann die Kette schließen, wann auch immer ich über 50 km hinaus unterwegs bin, sollte das dann irgendwann grün sein? Planen Sie da was?

Ich würde schon unterschreiben, dass wir für Menschen eine Alternative sein wollen, wenn es in eine Mittel- und Langstecke geht. Das ist sicherlich das, was wir erreichen wollen, das überlegt wird: ich könnte fliegen, ich könnte mit der Deutschen Bahn fahren, ich könnte Flix fahren, in könnte mein eigenes Auto nehmen. Da möchten wir rein, dass wir immer eine Alternative sind. Da ist Zug jetzt eine wichtige Ergänzung, damit wir auch wirklich in die Köpfe von Leuten kommen, die Bus bisher vielleicht nicht genutzt haben.


Wir fühlen uns mit Bus und Schiene sehr wohl. Und da liegt auch gerade unser Schwerpunkt drauf. Wir haben jetzt mit Flixtrain und der Expansion von Bussen in die USA zeitgleich mit dem Ausbau des Netzes in Europa soviel zu tun, dass wir uns auch wirklich darauf konzentrieren müssen.


Das wichtige ist, wir müssen Bus und Bahn in den Griff kriegen und das erfolgreich machen.


*  *  *


Herzlichen Dank für die Offenheit!
Das Interview führte Thomas Keup.

Alt trifft neu: Premierenzug des Flixtrain in Hamburg-Altona.
Foto: HANSEVALLEY

 Hamburg Digital Background: 

Flixmobility mit Sitz in München hat sich in den vergangnen 5 Jahren vom Fernbusanbieter zum europaweiten Mobilitätsdienstleister entwickelt. Das von Jochen Engert, Daniel Krauss und André Schwämmlein gegründete Tech- und Vertriebs-Startup hat im vergangenen Jahr mit seiner Netzplanungs- und Vertriebsplattform 40 Mio. Kunden befördern lassen. Das Fernbusnetz umfasst heute täglich 250.000 Verbindungen zu über 1.400 Zielen in 27 Ländern. In Deutschland, Österreich und der Schweiz fährt Flixbus täglich 500 Punkte an. Ab April d. J. sollen weitere 140 Haltestellen in der DACH-Region hinzukommen.

Von Schulfreunden zum Bahnschreck: Die Flixbus-Gründer
Foto: Flixmobility

Mit Übernahme des insolventen Anbieters Locomore im August '17 sammelte Flixtrain erste Erfahrungen auf den Strecken des "Hamburg-Köln-Express" (HKX) und Stuttgart-Frankfurt-Hannover. Seit Wiederinbetriebnahme der Strecken verkaufte Flixmobility mehr als 70.000 Bahntickets auf den 2 Trassen. Das VC-finanzierte Unternehmen betreibt mit Flixbus Strecken in 10 europäischen Ländern sowie Schienenkooperationen in Österreich und Tschechien und beförderte in den vergangenen 5 Jahren über 100 Mio. Fahrgäste. Flixmobility beschäftigt mit seinen Tochterfilrmen über 1.000 Mitarbeiter, hinzu kommen mehr als 7.000 Mitarbeiter bei rd. 250 Bus- und Zugbetrieben.

Fotos und Video zur Premiere:
www.instagram.com/hansevalley

Das Unternehmen Flixmobility Tech:
www.flixbus.de/unternehmen

Von GoBus zu Flixmobility:

www.gruenderszene.de/galerie/flixbus-busbranche-ueberblick

Der Bahnservice Flixtrain:
www.flixtrain.de

Mittwoch, 21. März 2018

HANSETECHTEST: Auf der "Silicon-Line" - Aus dem Alltag eines BahnComfort-Kunden

HAMBURG DIGITAL TECHTEST
*Update 07.2023*

Sie drängeln, sie zicken, sie pöbeln. Fahrgäst*innen an Board von ICEs sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Was für den Gelegenheitsfahrer mit Wochenend-Trolley ein hinzunehmendes Ärgernis ist, wird für Pendler und Vielfahrer zwischen Haupt- und Hansestadt zum Horror: Schnäppchenjäger*ìnnen - aka "Sparpreis-Tickets"  aka "Super Sparpreis-Tickets" - ohne Reservierung, ohne Ahnung, ohne Anstand. 



Der neue ICE 4 aka "Viehtransporter" zwischen Berlin und München.
Foto: DB AG

Weil sich Privatreisende leider nicht mit Gutscheinen und Gratisfahrten auf Fernbus oder Billigzug abschieben lassen, haben sich Deutschlands Vielfahrer einiges einfallen lassen, um dennoch entspannt ans Ziel zu kommen. Nach 3 Jahren "Club-Mitglied" mit "schwarzer Mamba" (BahnCard 100) verrate ich heute praktische Tips & Tricks für eine entspannte Bahnfahrt - ohne Kreti, ohne Pleti. Ein persönlicher HANSETECHTEST:

Ich fuhr bis zum Ausbruch von Corona jede Woche auf der Strecke von Berlin-Südkreuz nach Hamburg-Hauptbahnhof und zurück von Hamburg-Dammtor. Die "Silicon-Line" war vor der Pandemie für 17.000 Fahrgäste täglich die direkte Verbindung zwischen Haupt- und Hansestadt. Neben Fallstudien zu Menschen, die man nicht in seine Wohnung lassen würde, bieten die rd. 2 Stunden einen bunten Querschnitt aller schlechten Manieren - von randalieren Punks bis zu rauchenden "Assis" - pardon: bildungsfernen Fahrgäst*innen -, von beleidigenden Gelegenheits-Fahrer*innen bis zu pöbelnden Möchtegern-Geschäftsleuten. So wird's dennoch ein entspannter Aufenthalt an Board.

Die Vielfahrer-Anfahrt:

Der clevere Geschäftsreisende vermeidet Hauptbahnhöfe. Stattdessen gilt, eine Station vor dem Umsteigeknoten an Board zu gehen, in Hamburg z. B. am Messebahnhof Dammtor, in Berlin am Südkreuz nahe Potsdamer Platz. So hat man die Chance, vor drängelnden und pöbelnden Billigheimers ein nettes Plätzchen zu ergattern und ist der erste, sich einen freiwerdenden Wunschsitzplatz auszusuchen. In voll belegten, durchreservierten oder hochfrequentierten Zügen lohnen sich 10 Minuten S-Bahn-Fahrt zum Ausweichbahnhof besonders. Der Wunschsitzplatz wartet schon.


Nahkampfzone Hauptbahnhof: Der richtige Standort ist der halbe Sitzplatz.
Foto: Sterilassistentin, Lizenz: GNU GPL

Am ICE-Bahnsteig:


Der Mensch ist ein Gewohnheitstier - und deshalb stehen an Durchgangsbahnhöfen, wie Hamburg oder Berlin-Hauptbahnhof, alle Privatreisenden in der Mitte des Bahnsteigs. Großer Anfängerfehler und Garantie für einen Stehplatz! Grund: Rolltreppen gehen immer zur Bahnsteigmitte und das Herdentier Mensch steht da, wo alle stehen. Der kluge Geschäftsreisende sucht sich mit anderen Berufspendlern einen Wagen am Anfang oder Ende des Zuges, denn dort sind Onkel, Tanten und Ausflügler*innen selten zu finden.

Die klare Vorauswahl:

Lockführer spielen regelmäßig das beliebte Spielchen "Wagen würfeln". Ahnungslose Gelegenheitsfahrer*innen ohne Reservierung freuen sich dann auf die "Tour de Class" durch 12 bis 14 volle Wagons - im ICE 4 an bis zu 949 anderen Fahrgäst*innen vorbei. Der erfahrene Vielfahrer schaut bei der Anfahrt in die DB Navigator-App oder seit diesem Jahr auf die Echtzeit-Anzeige am Bahnsteig, wie der Zug unterwegs ist - mit geplanter oder umgekehrter Reihenfolge. Frühzeitiges Ansteuern weniger überfüllter Wagen am einen oder anderen Ende garantiert eine entspannte Reise. Alles andere fällt unter Sardinenbüchse.

Die ICE-Zugeinfahrt:

Kritisch wird die Pulkbildung bei unerwarteter Reihenfolge. Stehen Fahrgäst*innen mit Reservierung laut Wagenstandsanzeiger im richtigen Bereich, fängt bei umgekehrter Wagenfolge das Chaos an. Dann stehen 2.-Klasse-Reisende beim ICE 3 plötzlich vor der 1. Klasse. Folge: Bevor der/die gepflegte Tourist*in ihren festen Platz sucht, blockiert Mann/Frau gern einen direkt benachbarten Bahn Comfort-Vielfahrer- bzw. Statussitz. Sehr unschön und die Garantie für Ärger. Denn Bahn Comfort ist für "Lidl-Tourist*innen" Tabuzone.

Das ideale Einsteigen:

Bei Auswahl der Türen gilt für Geschäftsreisende mit knapper Zeit: keine Kinder, keine Rentner, keine Reisegruppen. Grund: Alle drei Gruppen kosten verständlicher Weise mehr Zeit beim Einsteigen. Bekommen Kinder ihre 5 Minuten, haben Sie das schönste Drama. Haben Senioren vor Ihnen Probleme mit der Mobilität, dauert es. Blockieren Reisegruppen mit festgekrallten Schrankkoffern auf dem Weg zum Kreuzfahrtschiff den Gang, haben Sie verloren. Grundsätzlich sollte man Müttern mit Kindern, Senioren oder Reisenden mit schwerem Gepäck natürlich behilflich sein. 

Die sichere Platzsuche:

Der Geschäftsreisende vermeidet bei der Platzwahl einen entscheidenden Fehler: die Wahl eines 4er-Tisches. Grund. Wird's kuschelig eng am Tisch, kann man das Verstauen der eigenen Füsse - vor allem bei 1,85 m aufwärts - vergessen. Besonders unangenehm: Die Fensterplätze mit Tischbein in der Mitte und Mülleimer am Fenster. Das will man nicht wirklich. Deshalb wählen professionelle Zuggäste gern eine komfortable 2er-Reihe mit Beinfreiheit und maximal einem (nervenden) Mitreisenden an seiner Seite. 

Die absoluten Idealplätze:

Neben der 2er-Reihe ist die Fahrtrichtung ein Thema. Dabei bietet es sich an, in Fahrtrichtung durch den Zug zu laufen. Das erleichtert die Entscheidung. Der erste Blick gilt den Anzeigen: keine Reservierung? Mein Platz. Reservierung ab späterem Bahnhof? Mein Platz. Bahn Comfort-Sitz?  Mein Platz, aber vielleicht nicht Ihr Platz. Das i-Tüpfelchen: Sitzreihe mit Wandverkleidung statt Fenster. Dann haben Sie einen Kleiderhaken für sich. Und als Insidertipp: Wollen Sie schlafen, nehmen Sie keine Reihe mit Rückenlehne an Rückenlehne. Diese lässt sich dann nur teilweise zurückstellen. Unter uns Profis ...

Die BahnComfort-Plätze:

Absolutes Ärgernis sind die Bahn Comfort- bzw. Status-Plätze. Grund: Hier machen sich regelmäßig "Super-Sparpreis-ich-geiz-bei-der-Reservierung-Tickets" breit. Die reservierten Plätze sind für Vielfahrer mit Bahn-Comfort-Status re-ser-viert, z. B. Bahn Card 100-Nutzer. Alle anderen haben dort nichts zu suchen, ebenso wenig wie in der 1. Klasse. Die Plätze sind für Billig-Tourist*innen ohne Reservierung und Lesebrille Sperrgebiet. Pendler und andere Vielfahrer scheuchen Sparfüchs*innen zu Recht von den Plätzen, auch wenn diese gern mal rumzicken.

Die unschönen Platzfallen:

Vermeiden Sie nicht nur, mit 12,90 oder 17,90 € Schnäppchenticket von Status-Plätzen verjagdt zu werden. Behindertensitze sind keine rollenden Arbeitspätze für Berater*innen. Und Sitzplätze für Familien sollte man meiden, will man im Zug seine Ruhe haben, ein wenig arbeiten oder schlafen. So sehr Kinder eine Bereicherung für uns alle sind, nach einem langen intensiven Arbeitstag wollen Sie auf der Heimfahrt eher nicht im Kindergarten vorbeischauen, außer Sie planen gerade eigenen Nachwuchs. Planen Sie gerade? ;-)

Die Lückenfüller*innen:

Haben Sie Ihr Wunschplätzchen bekommen, meiden Sie Nervensäg*innen neben sich. Hier hat der Geschäftsreisende einen Katalog erprobter Maßnahmen zur Auswahl: 1. Niemals einsteigende Fahrgäst*innen anschauen - außer Sie suchen Anschluss. 2. Kopfhörer aufsetzen - dies verringert die Gefahr, angesprochen zu werden. Noise Cancelling ist für Vielfahrer Standard. 3. Schlafend stellen - bis alle "Sparpreis-Tickets" an Ihnen vorbeigezogen sind. Und 4. Hustenanfall und kräftiger Schnäuzer beim Boarding garantiert einen freien Sitz neben Ihnen - und damit die Freiheit, es sich gemütlich zu machen.


Das ICE-Schnellverkehrsnetz 2018
Grafik: Classical Geographer
Die Trickser*innen:

Nicht nur Sie kennen jetzt den "Servicekatalog" für entspanntes Bahnfahren: Andere sind nicht weniger kreativ. Frauen setzen sich gern ans Fenster und bauen sich mit Koffer, Rücksack und Verpflegung eine Höhle. Wollen Sie dennoch den blockierten Platz - lassen Sie sich nicht "breitquatschen". Glauben Sie andererseits Männern nicht die Geschichte vom Mitreisenden, der gleich kommt. Als Alleinreisender erhöhen Sie die Chance auf einen freien Nachbarsitzes mit der Wahl des Gangplatzes. Niemand will sich ans Fenster quetschen, wenn dort schon der Trolley steht. Probieren Sie es einmal aus.

Die Nervensäg*innen:

Ist man auf seinem Wunschplatz unterwegs, kommen die Störenfriede zum Einsatz. Besonders beliebt in Pendlerzügen: Arbeitskolleg*innen mit den größten Hits aus Kollegenschaft und Kundschaft. Nervig sind renitente Telefonierer*innen, die meinen, an Board ihre Probleme mit Projekten und Freund*innen auszudiskutieren. Und schließlich Ferienfahrer*innen: Ja, die Landschaft ist schön. Und jetzt einfach mal den Sabbel halten... In Ruhebereichen können und dürfen Sie Mitreisende zur Ordnung rufen. Im Zweifelsfall hilft das Bordpersonal, unverfrorenen oder renitenten Fahrgäst*innen die Meinung zu sagen - und für Ruhe zu Sorgen.

Der schnelle Abschluss:

Zum Ende der Fahrt gilt, was am Anfang galt: keine Kinder, keine Rentner, keine Reisegruppen. Frühzeitiges Packen und Positionieren an der Tür garantiert schnellen Ausstieg und schnelles Verlassen des Bahnhofs. Aber Achtung: Senioren stehen gern bereits ab Wittenberge an der Tür, um Hamburg Hauptbahnhof nicht zu verpassen. Die Seite des Ausstiegs wird im Display an der Tür angezeigt. Ein vollbesetzter ICE hat bis zu 750 Sitzplätze und ein ICE 4 - Spitzname "Viehtransporter" - bis zu 950 und noch einmal soviel Stehplätze. Im schlimmsten Fall warten Sie, bis Mutti und Papi, Kreti und Pleti sowie alle Schrankkoffer und Kinderwagen vor Ihnen auf der Rolltreppe sind - und das kann dauern.

Ein Hinweis zum Abschluss:

Täglich nutzten vor Corona fast 400.000 Fahrgäste sicher und komfortabel den Fernverkehr der Deutschen Bahn, davon rd. 17.000 allein zwischen Berlin und Hamburg. Ein friedliches, verantwortungsvolles Miteinander ist Grundvoraussetzung für geteilte Mobilität, attraktive Möglichkeiten und die Schonung von Ressourcen. Dies möchte ich als ehemaliger Mitarbeiter der Deutschen Bahn ausdrücklich betonen.

Dieser Beitrag spitzt zugleich persönliche Erfahrungen aus über 3 Jahren wöchentlicher Nutzung des Fernverkehrs der Deutschen Bahn auf der "Silicon-Line" wider. Er basiert auf zahlreichen, z. T. sich wiederholenden Erfahrungen und pointiert als persönlicher Meinungsbeitrag die Schattenseiten zweifelhaften Verhaltens kritisierenswerter Zeitgenossen*innen.

Für alle empörten Schnäppchenjäger*innen mit "Super-Sparpreis-Aktions-Ticket" darf ich eine persönliche Empfehlung geben, die jeglichen Ärger von vornherein vermeidet: Eine Reservierung im ICE der Deutschen Bahn kostet regulär 9,80 € und erspart, ausdrücklich als reserviert ausgeschilderte Status oder Vorzugs-Plätze unfreiwillig wieder verlassen zu müssen. Ein kleiner Hinweis zur Schonung der eigenen Nerven.





 Hamburg Digital Background: 

Süddeutsche Zeitung Magazin: Schreiduell in Wagen 7
sz-magazin.sueddeutsche.de/der-lokvogel-bahnfahrerkolumne/bahn-comfort-bereich-88061

Hintergrund zum Personenverkehr des DB Fernverkehr:

Die Deutsche Bahn setzt für ihre täglich vor Corna rd. 395.000 Fahrgäste im Fernverkehr mehr als 260 ICEs durch die Tochter DB Fernverkehr ein. An Feiertagen steigt die Zahl der Fahrgäste auf 425.000. Insgesamt gibt es pro Jahr rd. 500.000 Fahrten mit IC, EC und ICE inkl. 3 Mio. Stopps. DB Station & Service bewirtschaftet bundesweit allein rd. 180 ICE-Bahnhöfe. Seit Juni 2018 kommen die Züge der jüngsten Baureihe 412 mit jeweils 835 Sitzplätzen hinzu - mit bis zu 22% niedrigeren Stromkosten pro Fahrgast und Strecke. 

Der ICE 4 wird intern auch als "Viehtransporter" genannt - wegen seiner engen Abständen und in der höchsten Ausbaustufe mit 13 Wagons und rd. 950 Sitzplätzen fast doppelt so großen Anzahl an Sitzplätzen. Das DB-Personal hat auch für die anderen Züge lustige Spitznamen: Der ICE 1 mit Restaurant und Fenstern in der Decke heißt intern auch "Buckelwahl", der ICE 2 auf Grund der großen Frontklappe für die Kuppkung "Scheunentor" und der ICE 3 auf Grund seiner abgerundeten Form "Tunnel-Tampon". 

Ab Dezember 2019 ist die Strecke Hamburg-Köln als ICE-Verbindung aufgewertet und wird mit den neuesten Zügen bedient. Ab Dezember 2020 führt die Bahn auf der "Silicon-Line" Hamburg-Berlin einen 30-Minuten-Takt mit ICEs und ICs ein. Die Zahl der von Siemens und Bombardier entwickelten ICE 4 im täglichen Betrieb steigt in den kommenden Jahren auf 130 bestellte Züge. Dazu kommt der zugekaufter ICE L von Talgo aus Spanien. Bis 2030 plant die DB AG insgesamt 12 Mrd. € in die Modernisierung und den Ausbau ihrer Fahrzeugflotte zu investieren, davon 5,3 Mrd. € für die neue ICE 4-Baureihe.