Mittwoch, 21. März 2018

HANSETECHTEST: Auf der "Silicon-Line" - Aus dem Alltag eines BahnComfort-Kunden

HAMBURG DIGITAL TECHTEST
*Update 07.2023*

Sie drängeln, sie zicken, sie pöbeln. Fahrgäst*innen an Board von ICEs sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Was für den Gelegenheitsfahrer mit Wochenend-Trolley ein hinzunehmendes Ärgernis ist, wird für Pendler und Vielfahrer zwischen Haupt- und Hansestadt zum Horror: Schnäppchenjäger*ìnnen - aka "Sparpreis-Tickets"  aka "Super Sparpreis-Tickets" - ohne Reservierung, ohne Ahnung, ohne Anstand. 



Der neue ICE 4 aka "Viehtransporter" zwischen Berlin und München.
Foto: DB AG

Weil sich Privatreisende leider nicht mit Gutscheinen und Gratisfahrten auf Fernbus oder Billigzug abschieben lassen, haben sich Deutschlands Vielfahrer einiges einfallen lassen, um dennoch entspannt ans Ziel zu kommen. Nach 3 Jahren "Club-Mitglied" mit "schwarzer Mamba" (BahnCard 100) verrate ich heute praktische Tips & Tricks für eine entspannte Bahnfahrt - ohne Kreti, ohne Pleti. Ein persönlicher HANSETECHTEST:

Ich fuhr bis zum Ausbruch von Corona jede Woche auf der Strecke von Berlin-Südkreuz nach Hamburg-Hauptbahnhof und zurück von Hamburg-Dammtor. Die "Silicon-Line" war vor der Pandemie für 17.000 Fahrgäste täglich die direkte Verbindung zwischen Haupt- und Hansestadt. Neben Fallstudien zu Menschen, die man nicht in seine Wohnung lassen würde, bieten die rd. 2 Stunden einen bunten Querschnitt aller schlechten Manieren - von randalieren Punks bis zu rauchenden "Assis" - pardon: bildungsfernen Fahrgäst*innen -, von beleidigenden Gelegenheits-Fahrer*innen bis zu pöbelnden Möchtegern-Geschäftsleuten. So wird's dennoch ein entspannter Aufenthalt an Board.

Die Vielfahrer-Anfahrt:

Der clevere Geschäftsreisende vermeidet Hauptbahnhöfe. Stattdessen gilt, eine Station vor dem Umsteigeknoten an Board zu gehen, in Hamburg z. B. am Messebahnhof Dammtor, in Berlin am Südkreuz nahe Potsdamer Platz. So hat man die Chance, vor drängelnden und pöbelnden Billigheimers ein nettes Plätzchen zu ergattern und ist der erste, sich einen freiwerdenden Wunschsitzplatz auszusuchen. In voll belegten, durchreservierten oder hochfrequentierten Zügen lohnen sich 10 Minuten S-Bahn-Fahrt zum Ausweichbahnhof besonders. Der Wunschsitzplatz wartet schon.


Nahkampfzone Hauptbahnhof: Der richtige Standort ist der halbe Sitzplatz.
Foto: Sterilassistentin, Lizenz: GNU GPL

Am ICE-Bahnsteig:


Der Mensch ist ein Gewohnheitstier - und deshalb stehen an Durchgangsbahnhöfen, wie Hamburg oder Berlin-Hauptbahnhof, alle Privatreisenden in der Mitte des Bahnsteigs. Großer Anfängerfehler und Garantie für einen Stehplatz! Grund: Rolltreppen gehen immer zur Bahnsteigmitte und das Herdentier Mensch steht da, wo alle stehen. Der kluge Geschäftsreisende sucht sich mit anderen Berufspendlern einen Wagen am Anfang oder Ende des Zuges, denn dort sind Onkel, Tanten und Ausflügler*innen selten zu finden.

Die klare Vorauswahl:

Lockführer spielen regelmäßig das beliebte Spielchen "Wagen würfeln". Ahnungslose Gelegenheitsfahrer*innen ohne Reservierung freuen sich dann auf die "Tour de Class" durch 12 bis 14 volle Wagons - im ICE 4 an bis zu 949 anderen Fahrgäst*innen vorbei. Der erfahrene Vielfahrer schaut bei der Anfahrt in die DB Navigator-App oder seit diesem Jahr auf die Echtzeit-Anzeige am Bahnsteig, wie der Zug unterwegs ist - mit geplanter oder umgekehrter Reihenfolge. Frühzeitiges Ansteuern weniger überfüllter Wagen am einen oder anderen Ende garantiert eine entspannte Reise. Alles andere fällt unter Sardinenbüchse.

Die ICE-Zugeinfahrt:

Kritisch wird die Pulkbildung bei unerwarteter Reihenfolge. Stehen Fahrgäst*innen mit Reservierung laut Wagenstandsanzeiger im richtigen Bereich, fängt bei umgekehrter Wagenfolge das Chaos an. Dann stehen 2.-Klasse-Reisende beim ICE 3 plötzlich vor der 1. Klasse. Folge: Bevor der/die gepflegte Tourist*in ihren festen Platz sucht, blockiert Mann/Frau gern einen direkt benachbarten Bahn Comfort-Vielfahrer- bzw. Statussitz. Sehr unschön und die Garantie für Ärger. Denn Bahn Comfort ist für "Lidl-Tourist*innen" Tabuzone.

Das ideale Einsteigen:

Bei Auswahl der Türen gilt für Geschäftsreisende mit knapper Zeit: keine Kinder, keine Rentner, keine Reisegruppen. Grund: Alle drei Gruppen kosten verständlicher Weise mehr Zeit beim Einsteigen. Bekommen Kinder ihre 5 Minuten, haben Sie das schönste Drama. Haben Senioren vor Ihnen Probleme mit der Mobilität, dauert es. Blockieren Reisegruppen mit festgekrallten Schrankkoffern auf dem Weg zum Kreuzfahrtschiff den Gang, haben Sie verloren. Grundsätzlich sollte man Müttern mit Kindern, Senioren oder Reisenden mit schwerem Gepäck natürlich behilflich sein. 

Die sichere Platzsuche:

Der Geschäftsreisende vermeidet bei der Platzwahl einen entscheidenden Fehler: die Wahl eines 4er-Tisches. Grund. Wird's kuschelig eng am Tisch, kann man das Verstauen der eigenen Füsse - vor allem bei 1,85 m aufwärts - vergessen. Besonders unangenehm: Die Fensterplätze mit Tischbein in der Mitte und Mülleimer am Fenster. Das will man nicht wirklich. Deshalb wählen professionelle Zuggäste gern eine komfortable 2er-Reihe mit Beinfreiheit und maximal einem (nervenden) Mitreisenden an seiner Seite. 

Die absoluten Idealplätze:

Neben der 2er-Reihe ist die Fahrtrichtung ein Thema. Dabei bietet es sich an, in Fahrtrichtung durch den Zug zu laufen. Das erleichtert die Entscheidung. Der erste Blick gilt den Anzeigen: keine Reservierung? Mein Platz. Reservierung ab späterem Bahnhof? Mein Platz. Bahn Comfort-Sitz?  Mein Platz, aber vielleicht nicht Ihr Platz. Das i-Tüpfelchen: Sitzreihe mit Wandverkleidung statt Fenster. Dann haben Sie einen Kleiderhaken für sich. Und als Insidertipp: Wollen Sie schlafen, nehmen Sie keine Reihe mit Rückenlehne an Rückenlehne. Diese lässt sich dann nur teilweise zurückstellen. Unter uns Profis ...

Die BahnComfort-Plätze:

Absolutes Ärgernis sind die Bahn Comfort- bzw. Status-Plätze. Grund: Hier machen sich regelmäßig "Super-Sparpreis-ich-geiz-bei-der-Reservierung-Tickets" breit. Die reservierten Plätze sind für Vielfahrer mit Bahn-Comfort-Status re-ser-viert, z. B. Bahn Card 100-Nutzer. Alle anderen haben dort nichts zu suchen, ebenso wenig wie in der 1. Klasse. Die Plätze sind für Billig-Tourist*innen ohne Reservierung und Lesebrille Sperrgebiet. Pendler und andere Vielfahrer scheuchen Sparfüchs*innen zu Recht von den Plätzen, auch wenn diese gern mal rumzicken.

Die unschönen Platzfallen:

Vermeiden Sie nicht nur, mit 12,90 oder 17,90 € Schnäppchenticket von Status-Plätzen verjagdt zu werden. Behindertensitze sind keine rollenden Arbeitspätze für Berater*innen. Und Sitzplätze für Familien sollte man meiden, will man im Zug seine Ruhe haben, ein wenig arbeiten oder schlafen. So sehr Kinder eine Bereicherung für uns alle sind, nach einem langen intensiven Arbeitstag wollen Sie auf der Heimfahrt eher nicht im Kindergarten vorbeischauen, außer Sie planen gerade eigenen Nachwuchs. Planen Sie gerade? ;-)

Die Lückenfüller*innen:

Haben Sie Ihr Wunschplätzchen bekommen, meiden Sie Nervensäg*innen neben sich. Hier hat der Geschäftsreisende einen Katalog erprobter Maßnahmen zur Auswahl: 1. Niemals einsteigende Fahrgäst*innen anschauen - außer Sie suchen Anschluss. 2. Kopfhörer aufsetzen - dies verringert die Gefahr, angesprochen zu werden. Noise Cancelling ist für Vielfahrer Standard. 3. Schlafend stellen - bis alle "Sparpreis-Tickets" an Ihnen vorbeigezogen sind. Und 4. Hustenanfall und kräftiger Schnäuzer beim Boarding garantiert einen freien Sitz neben Ihnen - und damit die Freiheit, es sich gemütlich zu machen.


Das ICE-Schnellverkehrsnetz 2018
Grafik: Classical Geographer
Die Trickser*innen:

Nicht nur Sie kennen jetzt den "Servicekatalog" für entspanntes Bahnfahren: Andere sind nicht weniger kreativ. Frauen setzen sich gern ans Fenster und bauen sich mit Koffer, Rücksack und Verpflegung eine Höhle. Wollen Sie dennoch den blockierten Platz - lassen Sie sich nicht "breitquatschen". Glauben Sie andererseits Männern nicht die Geschichte vom Mitreisenden, der gleich kommt. Als Alleinreisender erhöhen Sie die Chance auf einen freien Nachbarsitzes mit der Wahl des Gangplatzes. Niemand will sich ans Fenster quetschen, wenn dort schon der Trolley steht. Probieren Sie es einmal aus.

Die Nervensäg*innen:

Ist man auf seinem Wunschplatz unterwegs, kommen die Störenfriede zum Einsatz. Besonders beliebt in Pendlerzügen: Arbeitskolleg*innen mit den größten Hits aus Kollegenschaft und Kundschaft. Nervig sind renitente Telefonierer*innen, die meinen, an Board ihre Probleme mit Projekten und Freund*innen auszudiskutieren. Und schließlich Ferienfahrer*innen: Ja, die Landschaft ist schön. Und jetzt einfach mal den Sabbel halten... In Ruhebereichen können und dürfen Sie Mitreisende zur Ordnung rufen. Im Zweifelsfall hilft das Bordpersonal, unverfrorenen oder renitenten Fahrgäst*innen die Meinung zu sagen - und für Ruhe zu Sorgen.

Der schnelle Abschluss:

Zum Ende der Fahrt gilt, was am Anfang galt: keine Kinder, keine Rentner, keine Reisegruppen. Frühzeitiges Packen und Positionieren an der Tür garantiert schnellen Ausstieg und schnelles Verlassen des Bahnhofs. Aber Achtung: Senioren stehen gern bereits ab Wittenberge an der Tür, um Hamburg Hauptbahnhof nicht zu verpassen. Die Seite des Ausstiegs wird im Display an der Tür angezeigt. Ein vollbesetzter ICE hat bis zu 750 Sitzplätze und ein ICE 4 - Spitzname "Viehtransporter" - bis zu 950 und noch einmal soviel Stehplätze. Im schlimmsten Fall warten Sie, bis Mutti und Papi, Kreti und Pleti sowie alle Schrankkoffer und Kinderwagen vor Ihnen auf der Rolltreppe sind - und das kann dauern.

Ein Hinweis zum Abschluss:

Täglich nutzten vor Corona fast 400.000 Fahrgäste sicher und komfortabel den Fernverkehr der Deutschen Bahn, davon rd. 17.000 allein zwischen Berlin und Hamburg. Ein friedliches, verantwortungsvolles Miteinander ist Grundvoraussetzung für geteilte Mobilität, attraktive Möglichkeiten und die Schonung von Ressourcen. Dies möchte ich als ehemaliger Mitarbeiter der Deutschen Bahn ausdrücklich betonen.

Dieser Beitrag spitzt zugleich persönliche Erfahrungen aus über 3 Jahren wöchentlicher Nutzung des Fernverkehrs der Deutschen Bahn auf der "Silicon-Line" wider. Er basiert auf zahlreichen, z. T. sich wiederholenden Erfahrungen und pointiert als persönlicher Meinungsbeitrag die Schattenseiten zweifelhaften Verhaltens kritisierenswerter Zeitgenossen*innen.

Für alle empörten Schnäppchenjäger*innen mit "Super-Sparpreis-Aktions-Ticket" darf ich eine persönliche Empfehlung geben, die jeglichen Ärger von vornherein vermeidet: Eine Reservierung im ICE der Deutschen Bahn kostet regulär 9,80 € und erspart, ausdrücklich als reserviert ausgeschilderte Status oder Vorzugs-Plätze unfreiwillig wieder verlassen zu müssen. Ein kleiner Hinweis zur Schonung der eigenen Nerven.





 Hamburg Digital Background: 

Süddeutsche Zeitung Magazin: Schreiduell in Wagen 7
sz-magazin.sueddeutsche.de/der-lokvogel-bahnfahrerkolumne/bahn-comfort-bereich-88061

Hintergrund zum Personenverkehr des DB Fernverkehr:

Die Deutsche Bahn setzt für ihre täglich vor Corna rd. 395.000 Fahrgäste im Fernverkehr mehr als 260 ICEs durch die Tochter DB Fernverkehr ein. An Feiertagen steigt die Zahl der Fahrgäste auf 425.000. Insgesamt gibt es pro Jahr rd. 500.000 Fahrten mit IC, EC und ICE inkl. 3 Mio. Stopps. DB Station & Service bewirtschaftet bundesweit allein rd. 180 ICE-Bahnhöfe. Seit Juni 2018 kommen die Züge der jüngsten Baureihe 412 mit jeweils 835 Sitzplätzen hinzu - mit bis zu 22% niedrigeren Stromkosten pro Fahrgast und Strecke. 

Der ICE 4 wird intern auch als "Viehtransporter" genannt - wegen seiner engen Abständen und in der höchsten Ausbaustufe mit 13 Wagons und rd. 950 Sitzplätzen fast doppelt so großen Anzahl an Sitzplätzen. Das DB-Personal hat auch für die anderen Züge lustige Spitznamen: Der ICE 1 mit Restaurant und Fenstern in der Decke heißt intern auch "Buckelwahl", der ICE 2 auf Grund der großen Frontklappe für die Kuppkung "Scheunentor" und der ICE 3 auf Grund seiner abgerundeten Form "Tunnel-Tampon". 

Ab Dezember 2019 ist die Strecke Hamburg-Köln als ICE-Verbindung aufgewertet und wird mit den neuesten Zügen bedient. Ab Dezember 2020 führt die Bahn auf der "Silicon-Line" Hamburg-Berlin einen 30-Minuten-Takt mit ICEs und ICs ein. Die Zahl der von Siemens und Bombardier entwickelten ICE 4 im täglichen Betrieb steigt in den kommenden Jahren auf 130 bestellte Züge. Dazu kommt der zugekaufter ICE L von Talgo aus Spanien. Bis 2030 plant die DB AG insgesamt 12 Mrd. € in die Modernisierung und den Ausbau ihrer Fahrzeugflotte zu investieren, davon 5,3 Mrd. € für die neue ICE 4-Baureihe.



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