Informatik und Wirtschaftsinformatik, Data Science und Mensch-Maschine-Interaktion: 2.400 Studierende werden aktuell an der Universität Hamburg zu Tech-Profis ausgebildet. Jährlich kommen 400 Erstsemester hinzu. Mit 5 Bachelor-, 5 Master- und Lehramtsstudiengängen ist der Fachbereich Informatik der Universität Hamburg die größte Ausbildungsstätte für den Tech-Nachwuchs an Alster und Elbe.
Vorreiter mit Hamburgs Informatikplattform "ahoi.digital": Tilo Böhmann Foto: Universität Hamburg |
"Wir leisten gute Arbeit, aber keiner redet darüber", sagt Prof. Dr. Tilo Böhmann. Der stv. Leiter des Fachbereichs, Leiter des Arbeitsbereichs IT-Management und Mit-Initiator der Informatikplattform "Ahoi Digital" spricht aus, was dem interessierten Beobachter auffällt. Mit Besuch von Olaf Scholz auf dem Campus in Stellingen hat sich seit 2014 der "Schlafende IT-Riese" auf den Weg gemacht. Unser HANSEPERSONALITY ist Prof. Dr. Tilo Böhmann:
Die Universität Hamburg ist der größte Informatik-Ausbilder rund um die Alster. Aber: Gute Lehre gibt es sicher an zahlreichen Hamburger Hochschulen. Gehen wir ans Eingemachte: Welche außergewöhnlichen Forschungsschwerpunkte setzen Sie auf dem Campus in Stellingen? Und warum?
Kognitive Systeme mit Neurowissenschaften und Psychologie
Bei aller Breite in der Ausbildung haben die Forscherinnen und Forscher in der Informatik der Universität klare gemeinsame Forschungsschwerpunkte. Seit vielen Jahren geht es bei uns um das hoch aktuelle Thema der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens. In diesem Bereich, den wir “Kognitive Systeme” nennen, arbeiten Kolleginnen und Kollegen aus der Informatik eng mit den Neurowissenschaften und der Psychologie zusammen, um Lernprozesse im Menschen besser zu verstehen und daraus bessere lernende Systeme in der Informatik zu gestalten.
Lösungen für Datensouveränität, wenn Daten das neue Öl sind
Ein zweiter Schwerpunkt ist “Information Governance Technologies”. Hier geht es um technische Lösungen für Datensouveränität - eine zentrale Zukunftsherausforderung, wenn Daten das neue Öl sind und immer mehr IT in die Cloud geht. Auch hier arbeiten wir Interdisziplinär, z.B. unter engem Einbezug ethischer und juristischer Kompetenz an zukunftsweisenden Lösungen. Als Drittes entwickeln wir zusammen mit anderen Disziplinen an der Universität und Hochschulen die Kompetenz im Bereich “Data Science” als neues Querschnittsfeld, das sowohl in Wissenschaft als auch Wirtschaft große Bedeutung hat.
In Forschung und Lehre profitieren wir von den Möglichkeiten einer Volluniversität, so dass wir auf vielen Gebieten interdisziplinär forschen können. Genauso wichtig ist aber auch die Zusammenarbeit mit den Informatik-Partnern von ahoi.digital. Gemeinsam arbeiten wir, gerne auch zusammen mit unseren aktiven Partnern aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Verwaltung, an Lösungen für die Zukunft.
Der Hamburger Senat spricht gern übe die im Februar 2017 angekündigte Informatikplattform "Ahoi Digital". Bis zum Ende der Legislaturperiode sollen bis zu 35 neue Informatik-Professuren an Hafencity Universsität, HAW Hamburg, Uni Hamburg und TU Harburg sowie bis zu 1.500 zusätzliche Studienplätze geschaffen werden. Wie kann das dem IT-Standort Hamburg nützen?
Die Empfehlungen des Wissenschaftsrats und auch unsere Analysen aus dem Initiatorenkreis von ahoi.digital zeigen klar: dem IT- und Digitalstandort Hamburg fehlen Köpfe in den Hochschulen. In Berlin und München sind das bislang fast doppelt so viele Professuren. Daher sind wir äußerst froh, dass wir durch den deutlichen Zuwachs an Professuren mehr Studierende ausbilden können und mit erheblich mehr Rückenwind Forschungsschwerpunkte ausbauen können.
"Dem IT- und Digitalstandort Hamburg fehlen Köpfe in den Hochschulen"
Wir wollen hart daran arbeiten, dass mehr Menschen Kompetenzen in Informatik als neuer Schlüsseldisziplin erwerben können. Wenn die Köpfe fehlen, bleiben Chancen ungenutzt oder Lösungen hinter ihren Möglichkeiten zurück. Man kann heute nicht die Lösungen für Morgen mit der Informatik von Gestern gestalten. Daher müssen aus meiner Sicht mehr Informatikerinnen und Informatiker in Hamburg her.
Alt-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi hat erstmals in seiner Übersee-Club-Rede 1983 auf den Punkt gebracht: Die Zukunft Hamburgs liegt auf dem Land - und nicht im Wasser. Sind die Aktivitäten des Hamburger Senats mit Begutachtung durch den Wissenschaftsrat 2015, der Einführung eines MINT-Forschungsrats 2016 und "Ahoi Digital" im Jahr 2017 nicht viel zu spät - und viel zu langsam?
Ich persönlich erlebe eine richtige Aufbruchsstimmung in der Wissenschaft in Hamburg und auch gerade im Thema der Digitalisierung. Den Zeitpunkt der Entwicklung mögen andere beurteilen, entscheidend ist aus meiner Sicht, dass etwas passiert. Und so arbeiten wir mit Hochdruck an der Umsetzung von ahoi.digital.
"Universität nicht als verlängerte Werkbank der Wirtschaft nützlich"
Ich nehme auch wahr, dass gerade Wissenschaft und Stadt ihre wechselseitigen Einschätzungen ändern. Als ich 2010 an die Universität Hamburg berufen wurde, begegnete mir manchmal die Erwartung aus Politik und Wirtschaft, die Universität solle sich als eine Art verlängerte Werkbank der Wirtschaft nützlich machen. Eine solche Erwartung wird aus meiner Sicht der Wissenschaft und ihrer eigenständigen Kraft im Erkenntnis- und Innovationsprozess überhaupt nicht gerecht.
Heute gibt es sehr erfolgreiche Beispiele der Co-Innovation, wo mit vereinten Kräften Lösungen für die Zukunft erdacht und erprobt werden. Diese Begegnung auf Augenhöhe erlebe ich beispielsweise konkret in unserem Netzwerk IT-Management und -Consulting, wo wir gemeinsam mit Partnern aus Wirtschaft und Verwaltung danach fragen, wie Wege der digitalen Transformation gelingen können, damit Arbeit und Wertschöpfung aus Hamburg erfolgreich in die digitale Zukunft geführt werden können.
Die Landesfachkomission Internet & Digitale Wirtschaft des Hamburger Wirtschaftsrats fordert einen echten Leuchturm für die Digitalwirtschaft an Alster und Elbe, statt "Klein-klein". Was halten Sie von der Idee einer eigenständigen "Digital Society University" - mit internationaler Strahlkraft, um Hamburg aus dem "Technologie-Tiefschlaf" herauszuholen?
Der Weg von ahoi.digital, die vorhandenen Stärken in Kooperation massiv auszubauen, ist aus meiner Sicht Erfolg versprechend und schon ein solcher Leuchtturm. Neue Wissenschaftsinstitutionen brauchen eine lange Zeit, bis sie wirklich voll funktionsfähig sind. Auch gilt aus meiner Sicht: die Bedeutung von Digitalisierung, Data Science und Informatik ist in meiner persönlichen Einschätzung an allen staatlichen Hamburger Hochschulen klar erkannt. Deshalb kommt ahoi.digital gerade recht, um diesen Rückenwind aufzugreifen und in Aktion umzusetzen.
"Weitere Anstrengungen im Bereich Co-Innovation und Technologietransfer erforderlich"
Allerdings darf man meiner Meinung nach auch jetzt nicht nachlassen oder sich ausruhen. Weitere Anstrengungen sind - und das sagt auch das ahoi.digital-Konzept - im Bereich der Co-Innovation und des Technologietransfers erforderlich. Hier kann man noch besser werden, um die Forscherinnen und Forscher der Hochschulen mit den Innovatoren in Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft zu verzahnen. Wir haben dafür gute Voraussetzungen, können aber hier noch bessere Brücken bauen, damit die erforderliche Informatik-Kompetenz auch in allen relevanten Bereichen ankommt. Dafür braucht es auch attraktive Orte, an denen diese Co-Innovation besonders leicht entstehen kann.
Sie sind Gründungsmitglied der "Interface Society - This!" von BWVI- und HPA-Chief Digital Officer Dr. Sebastian Saxe. Was macht aus Ihrer Sicht die Hamburger Perspektive für Digitalisierungsthemen aus - insbesondere auf Grund des besonderen Wirtschaftsprofils unserer Stadt? Wo sehen Sie die Tech-Zukunft Hamburgs?
Zunächst freue ich mich sehr, dass Menschen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft sich mit uns gemeinsam auf den Weg machen, um Impulse für die Digitalisierung aus Hamburg zu geben. Die "Interface Society" drückt schon im Namen aus, dass in der Digitalisierung Neues an sich neu formenden Schnittstellen zwischen bislang unverbundenen Bereichen entsteht. Ich persönlich glaube, dass Hamburg eine besondere Chance im Bereich einer menschenzentrierten Digitalisierung hat.
"Schnittstelle zu Menschen eine Herausforderung für Produkte und Dienstleistungen"
Wir haben mit Medien und Kultur starke Bereiche in der Stadt, bei denen menschliches Erleben und schöpferische Interaktion im Mittelpunkt stehen. Diese menschenzentrierte Perspektive strahlt aus, nicht zuletzt, weil wir gewohnt sind, unsere digitalen Alltagsinteraktionen als einfach und gebrauchstauglich, vielleicht sogar als inspirierend und kreativ zu erleben. Diese Erwartung tragen wir zunehmend in alle Lebensbereiche hinein und damit wird die Schnittstelle zu uns Menschen eine Herausforderung für viele Produkte und Dienstleistungen, z. B. bei neuen Wegen in der Mobilität, Luftfahrt, im Handel oder in der Gesundheitswirtschaft.
Will man diesen Weg beschreiten, braucht es aber gleichzeitig ein neues Verständnis für verantwortliches Handeln in der Digitalisierung. Ein einfaches laissez-faire wird der großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung der Digitalisierung aus meiner Sicht nicht mehr gerecht. Eine Verständigung dazu will die Interface Society fördern.
Von Deutschlands neuer Digitalstaatssekretärin Dorothee Bär über Hamburgs bürgerlicher Opposition bis zu den Organisatoren der Hamburger Hacker School steht die Forderung im Raum, Informatik als Pflichtfach einzuführen? Was halten Sie davon - und was bringt es z. B. kreativen Schülern, einen Rasberry Pi zu programmieren?
"Technologien drücken menschliche Möglichkeiten zur Gestaltung aus"
Es gilt, die Black-Box der Technologie öffnen und zu sehen, dass diese Technologien von Menschen gestaltbar sind und wie diese gestaltet werden können. Dazu gehört sicher auch die konkrete Programmiererfahrung. Um es sehr frei nach Kant zu sagen: Es geht um dem Ausgang des Menschen aus einer – zumindest in Teilen – selbstverschuldeten Technologieunmündigkeit. Für mich ist Informatik im Zeitalter der Digitalisierung ein zutiefst aufklärerisches Fach und gehört unbedingt in den Kanon der Allgemeinbildung.
Zu guter Letzt unsere Hamburg-Frage: Schauen wir zusammen über Wissenschaft, Forschung und Lehre hinaus in Wirtschaft, Verwaltung und Stadtleben: Wo ist unsere Stadt aus Ihrer Sicht digital schon richtig zukunftsweisend aufgestellt? Und wo sollte Hamburg kräftig an Tempo zulegen?
Aus meiner Sicht sind viele Weichen grundsätzlich schon in die richtige Richtung gestellt. Nun kommt es auf die beharrliche Umsetzung und gelingende Kooperation an. Dabei werden wir gut beraten sein, auf die Stärken der Stadt und ihrer Netzwerke zu schauen. Jedoch sollten wir mehr daran arbeiten, dass das, was wir in und für Hamburg für richtig halten, auch politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich Spuren legt für die nationale und europäische Debatte.
Ein Digitalisierungsrat für die Freie und Hansestadt Hamburg
Gerade wegen der vielen Aktivitäten im Bereich der Digitalisierung wäre ein Digitalisierungsrat nach schwedischem Vorbild eine Option für Hamburg. Dieser könnte helfen, aus Hamburger Sicht zentrale Themen zu identifizieren und zu transportieren sowie Profilstärken weiter zu entwickeln. Damit könnte uns noch besser gelingen, Hamburg im besten Sinne als „Pfadfinder“ für die Digitalisierung zu positionieren.
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Vielen Dank für die tiefen Einblicke!
Das Interview führte Thomas Keup.
Hamburg Digital Background:
Universität Hamburg - Fachbereich Informatik
Universität Hamburg - Arbeitsbereich IT-Management und -consulting
Ahoi Digital - Informatikplattform der Hamburger Hochschulen
The Interface Society (ThIS) - Expertenrat der Digitalisierung e.V.
Wirtschaftsrat: Hamburgs Digitalwirtschaft verpasst nationalen Anschluss
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